L’amour liquide

Innerhalb der dicken Mauern des Bergfrieds können wir uns zurückziehen und für einen Moment über das Wesentliche sinnieren: die Liebe. Cécile Wesolowski gewährt uns dafür in ihrer multimedialen, über vier Stockwerke choreografierten Installation temporäre Zuflucht vor der Ablenkung, Beschleunigung und mitunter Grausamkeit der digitalen und analogen Realität. L’Amour Liquide, zu Deutsch Flüssige Liebe, im Englischen Liquid Love, ist Titel ihrer Ausstellung aber auch einer Publikation des Soziologen Zygmunt Bauman. Er beschreibt darin zeitgenössische Unsicherheiten und liquide – d.h. flüssige wie wechselhafte – Zustände, die unser Verhalten zur Liebe prägen. Als digital sozialisierte Wesen streben wir nach maximaler Freiheit bei gleichzeitigem Wunsch nach Sicherheit und vertrauen auf digitale Netzwerke und Technologien, wie z.B. Tinder, um Liebe zu erfahren und zu konsumieren. Aber von was für einer Liebe sprechen wir hier? 

In der antiken griechischen Philosophie werden drei Arten von Liebe unterschieden: Eros, die körperliche Liebe oder Triebkraft, Philia, die geistige Liebe oder Freundschaft und Agape, die spirituelle Liebe, oft als Nächsten- und Gottesliebe aufgefasst. In den Arbeiten von Cécile Wesolowski wird vorrangig Eros verhandelt, eine Liebe der körperlichen Erfahrung. Sie changiert zwischen hart und weich, und vereint Hingabe, Vertrauen, Macht, Sex, Fetisch, Kitsch, Zärtlichkeit und Zuneigung in sich.

Welche Form hat diese Liebe? Sie ist nicht in eine vorgegebene oder geometrische Form zu pressen, gibt sich jedoch schmelzend, beinahe flüssig der Schwerkraft hin. Sie wirkt lasziv und sinnlich, manchmal verspielt, ein andermal machtvoll. Im Eingang des Bergfrieds empfängt uns ein überbordendes Herz, das die Fülle an bevorzugten Materialien der Künstlerin offenbart: Gefaltete Blumen und Rocaillen aus goldenen Rettungsdecken, bunte und schimmernde Folien sowie zugeschnittener Latexbehang verschleiern die vertraute Herzform (Tu me fais fondre, dt. Du lässt mich schmelzen). Die Latexdetails suggerieren Kettenglieder, brechen aber durch ihren subtilen Fetischcharakter mit der vermuteten Unschuld des Sujets.

Dieselbe Vielschichtigkeit finden wir in den darüber gelegenen Stockwerken. So etwa bei Ivresse amoureuse, einer mehrteiligen Installation und Augentäuschung. Flache Glasflaschen, bewusst in diese Form versetzt, sehen aus, wie vom nebenan platzierten Heizstrahler geschmolzen. Während wir uns noch wundern, hören wir etwas im nächsten Raum pulsieren: Too much love (dt. Zu viel Liebe) heißt eine Skulptur, aus deren phallischer Körperlichkeit eine unbestimmte Flüssigkeit austritt und sie kontinuierlich übergießt. Im zweiten Obergeschoss wird die sexuelle Konnotation zunächst fortgeführt. Le fouet de la verité (dt. Die Peitsche der Wahrheit) titelt eine überlebensgroße Peitsche aus Latex, deren Name sich vom Lasso der Wahrheit ableitet, einem magischen Artefakt, das die Superheldin Wonder Woman mit sich führt. Entgegen aller Assoziation wirken die Schuppen und Schnüre des Lassos jedoch weich und zahm. Die Zahmheit bestimmt auch den starken Bruch bis ins Barocke und Kitschige gegenüber, wo die Cascade amoureuse (dt. Liebeskaskade) in ihrer pinken Wucht den gesamten Raum in ihrem Licht einnimmt.

Cécile Wesolowski nutzt den spiralförmigen Aufstieg bis unters Dach für eine beinahe theatralische Dramaturgie in mehreren Akten, die unsere Gefühle mit jeder erfahrenen Arbeit hochschaukeln lässt. Den Höhepunkt finden wir im dritten Obergeschoss: L’Amour Liquide (dt. Flüssige Liebe), ein freistehender Wasserfall verbildlichter Emotionen, und eine Art von gesteigerte Variante der Wandarbeit im Erdgeschoss, geleitet uns sanft zu L’Etreinte (Die Umarmung). Das kurze, geloopte Video zeigt eine innige Umarmung zwischen zwei Personen, projiziert auf einen seidig wirkenden Untergrund aus rosarotem Sandpapier. Ihre Liebe – egal ob erotisch, familiär, freundschaftlich oder metaphysisch – wirkt aus der Kunst heraus in die Realität. Sich mit den Mitteln der Kunst der Liebe anzunähern gelingt Cécile Wesolowski durch einprägsame, fluide Formen, die ihren Inhalt gerade durch ihre Liquidität verkörpern können. Um mit den Worten des Arztes und Naturphilosophen Paracelsus abzuschließen: „und wo keine Liebe ist, da ist keine Kunst“. – Andrea Kopranovic, 2020

Residence April – June 2020

Exhibition June – January 2021